Erkenntnisse aus Psychologie und Hirnforschung macht man sich - mit der Absicht den Umsatz zu steigern - in der Werbung schon lange zu Nutze und nennt dies Neuromarketing. Wieso nutzt man dieses Wissen über die unbewussten menschlichen Bedürfnisse nicht stärker bei der Gestaltung von Räumen? Was in der Werbung oft bereits in Manipulation abrutscht, kann man ebenso ethisch-moralisch einwandfrei bei der Planung anwenden, um dem Menschen ein Gefühl von Sicherheit, Geborgenheit und Wohligkeit zu vermitteln.
Der Psychologe Stephen Porges hat die sog. Polyvagal-Theorie aufgestellt; er untersuchte das komplexe Zusammenspiel von parasympathischem und sympathischem Nervensystem. Die Theorie besagt - verkürzt - dass das Gefühl, in Sicherheit zu sein, für uns derart ausschlaggebend ist, dass unser Nervensystem ununterbrochen unsere Umgebung scannt und auf Gefahr hin einschätzt. Dies wird Neurozeption genannt. Nur, wenn das Ergebnis dieses ständigen, unbewusst ablaufenden Vorgangs, genannt Neurozeption, positiv ausfällt, ist unser autonomes Nervensystem in Balance und wir können uns ent-spannen, uns sicher fühlen und sind offen für soziale Interaktion.
Sie können sich unschwer vorstellen, dass ein entspanntes autonomes bzw. vegetatives Nervensystem die Voraussetzung für jegliche Form von Wohlgefühl bzw. Genussempfinden ist und dass daher das beste Essen und der köstlichste Wein nur dann entsprechend geschätzt werden können, wenn die Nerven-Kapazitäten für Genuss frei sind, statt damit beschäftigt ununterbrochen vor latenter Gefahr zu warnen. Und es ist naheliegend, dass das Sicherheits- und Wohlgefühl die Voraussetzung für einen guten Schlaf sind, denn die Warnung vor Gefahr hat natürlich immer Vorrang, da es – archaisch betrachtet - immer ums Überleben geht.
Natürlich kann man sich jeglichen Genuss auch verderben, indem man sich über seine Begleitung, oder eine*n unfreundliche*n Kellner*in ärgert. Aber darauf haben wir Architekten weniger Einfluss…
Worauf wir jedoch Einfluss haben, ist, und das ist in dem anspruchsvollen Konstrukt Hotel besonders wichtig, Räume zu schaffen und eine Atmosphäre zu kreieren, die auch der sorgfältigsten Neurozeption Stand halten. Warum ist das bei der Hotelplanung so besonders wichtig? Nun, wenn Sie ein Privat-Haus planen, so können Sie dieses an die Bedürfnisse der Bauherren, dieser wenigen Menschen, die dort wohnen werden, anpassen. In ein Hotel kommen jedoch täglich Personen, denen dieser Ort noch völlig unbekannt ist. Die Bewohner eines Hauses werden sich an die Gegebenheiten gewöhnen können, in einem Hotel ist der Mensch jedoch für kurze Zeit in einer neuen, ihm fremden Umgebung, die zunächst per se eine potenzielle Gefahr darstellt.
Wir sind in einem schönen Ferienhaus direkt an einem kleinen See, auf einem Gelände mit sehr angenehmer Atmosphäre. Im Wohnraum gibt es einen Kamin, in dem das Feuer prasselt, der Esstisch steht an den großen gläsernen Schiebetüren, die auf die hölzerne Terrasse am Wasser hinausführen. Das Essen ist köstlich, der ausgewählte Wein passt prima. Herrlich, nicht?
Am nächsten Morgen stelle ich fest, dass ich dennoch den gesamten Abend nicht wirklich genießen konnte. Was war passiert? Es hatten die Vorhänge gefehlt! Sie waren nach einer vorübergehenden Schließung nicht pünktlich aus der Reinigung zurückgekommen. So verbrachten wir den gesamten Abend an der dunklen Fensterscheibe sitzend. Nichts von dem, was draußen passierte, beziehungsweise hätte passieren können, konnten wir sehen. Was im Körper abläuft, ist dann ein regelrechter Kampf zwischen Verstand und Alarmsystem. Der Verstand versucht zu beruhigen, indem er auf seine Erfahrung zurückgreift, die sagt: „Wir sind in Bayern, nicht in der Ukraine, hier passiert nichts.“ Die Neurozeption läuft jedoch parallel auf Hochtouren und meldet unaufhörlich potentielle Gefahr. Dass dieser unterschwellig ablaufende Widerstreit jeglicher Entspannung und damit dem Genuss entgegensteht, können Sie sich bildhaft vorstellen. Dass die Scheiben auch noch kalt abgestrahlt haben und damit einen unangenehmen Kontrast zur Hitze des auf der anderen Seite befindlichen Kamins bildeten, war dabei zweitrangig.
Das gleiche Gefühl, oder ein Ähnliches, können einem im Restaurant z.B. das Sitzen mit dem Rücken zum Eingang oder zum Hauptdurchgang oder, was mich besonders stresst, zur Besteck–Schublade, die in kurzen Abständen aufgefüllt wird, bescheren. Ebenso schwierig empfinde ich ein Hotelzimmer in der Nähe des Aufzugs. Der Versuch zu schlafen, während ständig das erst leise, dann aber anschwellende Surren, zu hören ist, ist fast aussichtslos.
Im neurobiologischen Sinn kann also der Aufenthalt in einem Hotel puren Stress bedeuten. Um das zu vermeiden, beziehungsweise den Stress so gut wie möglich zu reduzieren, sollten wir Architekten und Innenarchitekten bei der Planung dieses unterschätzte menschliche Bedürfnis nach Sicherheit unbedingt stärker berücksichtigen. Hierzu gehört die sorgfältige Planung der Lage der Eingänge, die Sichtachsen, die Beleuchtung, die Akustik und vieles mehr.
Da man nicht immer jeden Aspekt planen und vorhersehen kann, ist es wichtig bereits existierende Hotels auf dieses hin zu prüfen und ggf. zu verbessern.
Mehr zu diesem Thema können Sie in der Beschreibung unserer Vorgehensweise als Hotel-Planer hier lesen.
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